Markus Kirchhofer las am
Vorabend eine seiner Geschichten aus seinem neuen Buch 'Der Stachel', das im Januar im Knapp-Verlag erscheint:
Die Ausgangspunkte der Geschichten sind
Idyllen nostalgischer Vergangenheit oder heiterer Gegenwart: auf der
Seegfrörni, am Skirennen, in der Badi, der Käserei oder der Projektwoche. Über
diese friedlichen Orte bricht Unheil herein: ein Gletscherabbruch, ein Amoklauf,
eine Entlassung, ein Verkehrs- oder Arbeitsunfall.
Markus
Kirchhofer erzählt seine geschickt orchestrierten Geschichten in einer einfach
gehaltenen, bildstarken, poetischen Sprache. Sie verrät den versierten Lyriker. (Auszug Buchvorschau)
Allerdings hat Kirchhofer die Geschichte betreffs der Lokalitäten auf Noseland angepasst.
Anbei die ganze Geschichte (mit Erlaubnis des Autors):
Der Blurp
Der Blurp kam hinunter bis nach Noseland. Er
kroch über die Grenze und bildete einen kaffeebraunen Torso aus Dreck, Lehm und
Wasser. Aus dem Hals schwoll eine Ausstülpung. Als sie platzte, ergoss sich
frisches Quellwasser auf die Wiese.
Zwei Tage zuvor, an einem Sonntag, war ich
mit dem Hund unterwegs, oberhalb des Sandplattechopfs. Ich ging an den grossen
Findlingen vorbei und wollte über das Bächlein. Aber der Hund wollte nicht hinüberspringen,
ums Verrecken nicht. Er winselte und bellte wie am Spiess. Da dachte ich schon,
dass der Blurp unter unseren Füssen war, nach all dem Regen in den letzten
Tagen. Im Mondschein der folgenden Nacht wollten unsere Nachbarn gesehen haben,
dass sich die Föhren bewegten, neben der Abbruchstelle von 1806. Das sagten sie
uns aber erst, als der Blurp schon in Noseland unten war.
Am Montag regnete es weiter, andauernd. Wir
blieben im Haus und in der Scheune. Nach der vielen Erntearbeit draussen gab es
drinnen genug zu tun. In der Nacht von Montag auf Dienstag hörten die Nachbarn
einen Knall, der ihr ganzes Haus erwadelte.
Mein Mann und ich hörten nichts, wir schliefen wie die Murmeltiere.
Am Dienstag regnete es weiter. Gegen Mittag blickten
wir hoch zur alten Abbruchstelle. Wir sahen, wie der Blurp gleich daneben eine
neue Bruchstelle aufriss. Wir rannten zu einem sicheren Felsvorsprung. Der Schlipf kam näher. Zu unseren Füssen
floss unser Bannwald vorbei, ganz langsam. Felsen und Baumstämme wurden in die zähflüssige
Masse hineingeknetet, bäumten sich auf, rieben sich knackend und polternd
aneinander. Der Blurp riss Steine, Kies und Dreck mit. Da und dort spuckte er
Wasserfontänen heraus. Dann tauchte er wieder ab.
Ich eilte ins Haus zurück und telefonierte der
Gemeindekanzlei. Die Feuerwehr sperrte die Zufahrtsstrasse zu unserem Haus. Auch
ein Geologe kam und erklärte:
"Sie leben südlich einer Hauptüberschiebung in der Erdkruste. Weiter
südlich beginnt der ultrahelvetische Sandstein." Der Berg, an dem unsere
Familie seit Generationen lebt, sei "subalpine Molasse, bei der
Alpenfaltung aufgeschoben." Links und rechts unseres Heimets hätten sich seit der letzten Eiszeit bereits Bergstürze
ereignet, der letzte grössere 1806. "Es ist eine Frage der Zeit, bis Ihnen
der Boden unter den Füssen wegbricht, erdgeschichtlich gesehen." Seit
Menschengedenken leben wir hier am sonnigen Bord
und zirpen wie die Feldgrillen. Vom Blurp unterspült, kann unsere Grasnarbe
jederzeit abrutschen. "Mit dem Bergsturz von 1806 ist der gegenwärtige Erdrutsch
nicht zu vergleichen, aber Sie sollten unbedingt für eine Weile weg,
sicherheitshalber." Ich packte einen Rucksack mit dem Nötigsten:
Familienbüchlein, Testament, Hochzeitsurkunde, AHV- und Versicherungsausweis.
Dazu eine Zahnbürste, Zahnpasta, ein Frotteetuch, das Schuttbuch von 1806 und
den Holzschuh mit den zwei Lederriemen.
Mein Grossvater hatte mir erzählt, dass das
Schuttbuch ein Jahr nach dem Felssturz erschienen war. Den Erlös des
Buchverkaufs erhielten die Überlebenden des Bergsturzes. Zwei davon waren
Vorfahren von mir: Meine Urururururgrossmutter und ihr Säugling. Jede der 457
verschütteten Personen, die hier wohnten oder auf der Durchreise waren, ist im
Schuttbuch erwähnt. Mit Namen, Alter, Familienstand und allem, hatte Grossvater
erzählt.
Der Mann meiner Vorfahrin war während des
Sommers als Senn auf dem Haberberg gewesen. Es war bereits September und das
Wetter seit Wochen schlecht. So machte sich mein Urahn mit seinem Vieh auf den Rückweg
von der Alp. Als er bei der Ruederche anlangte, riss der Blurp Nagelfluhbänke
vom Schärhamme. Der Berg raste zu Tal, in die Ruederche und sogar den Gegenhang
zum Haberberg empor. Der Bergsturz hatte meinen Vorfahr in den Tod gezerrt, mitsamt
seiner Herde.
Seine Frau im Bergheimetli hatte in den Tagen zuvor gehört, wie Baumwurzeln
hinter ihrem Haus gekracht hatten. Im prasselnden Regen stiess der Blurp
Findlinge ins Tal, drückte Steine aus der Erde und spaltete Wiesen. Als meine
Vorfahrin in der Küche Milchbrei für ihr Kind kochte, brüllte der Blurp drei
Mal, tief aus dem Gestein. Die Frau holte ihr Kind aus der Wiege und floh mit
ihm aus dem Haus. Kaum war sie draussen, riss der Blurp das Haus in die Tiefe.
Der ganze Hang rutschte zu ihren Füssen weg. Als das Tosen vorbei war, eilte
sie dem Bergsturz hinterher, um ihren Mann und seine Herde zu suchen. Auf dem
Schuttkegel flossen bereits neue Bäche. Die Hänge des Habergergs waren bedeckt
mit Heu aus den Schobern und Federn aus den Betten der Verschütteten. Tage
später wurde am Ufer der Ruederche der Holzschuh mit den zwei Lederriemen
gefunden. Er wurde meiner Urururururgrossmutter gebracht. Sie hatte ihn
behalten, obwohl sie nicht mit Sicherheit hatte sagen können, dass er ihrem
Mann gehört hatte.
Mein Mann ging zum Bauern hinter dem Bannwald
und fragte: "Können wir dir unser Vieh bringen, vorübergehend?". Es
ging nicht, also blieben wir mit dem Vieh auf dem Hof. Der Gemeindeschreiber
forderte uns am Telefon nochmals auf, unser Haus zu verlassen. Wir blieben. Zum
Glück hörte der Regen im Laufe des Dienstags auf. Der Blurp lag erschöpft auf Noseland.
Vorsichtig einen Fuss vor den anderen setzend, ging ich mit dem Hund bergauf.
Der Blurp hatte einen Teil unseres Waldes mitgerissen, ein Wasserreservoir
verschoben und einen neuen See gebildet. Die Holzbrücke, die mein Mann zwei
Jahre zuvor gebaut hatte, war um 90 Grad gedreht, das Bächlein darunter
versiegt.
Am Mittwoch kamen die ersten Neugierigen.
Zwei kamen barfuss und verdreckt bis zum Hintern in unsere Bergwirtschaft. Sie
waren durch den Schlamm des zum Stillstand gekommenen Schlipfs gewatet und hatten ihre Stiefel nicht mehr aus dem Dreck
ziehen können. Das Gebiet des Murgangs sah aus wie eine Mondlandschaft. Der
Regen, der Schnee und der Bach trugen sie langsam ab. Im nächsten Jahr bildeten
sich spitze Hügel, die aussahen wie Termitenbauten, mit einem Stein zuoberst.
Die Feuerwehr, das Militär und der Zivilschutz räumten auf und bauten neue
Wanderwege.
Der Rucksack mit den Schriften, dem
Schuttbuch, dem Holzschuh und dem Necessaire steht im Schlafzimmer. Seit der
Blurp bis nach Noseland kam, bleibt der Rucksack gepackt. Hin und wieder
wechsle ich die Zahnbürste und das Frotteetuch aus.
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